Fast 70 Jahre nach dem legendären Mercedes-Benz 300 SL, liegt die Entwicklung der neuen SL-Generation erstmals komplett in der Hand von Mercedes-AMG – Die Begeisterung und die Verantwortung sind riesig. Wir sprechen mit AMG CTO Jochen Hermann und Dennis Heck von Mercedes-Benz Classic.
1952 gab es für viele Motorsportler nicht wirklich viel zu feiern. Der Grund: Mercedes-Benz. Die Marke hatte Anfang der 50er-Jahre beschlossen, wieder in den Rennsport zurückzukehren – und fuhr allen davon. Mit ungeheurer Wucht trat der von begnadeten Ingenieuren entwickelte 300 SL auf die Weltbühne. Mit zwei Doppel-, einem Dreifach- und sogar einem Vierfachsieg bei den fünf wichtigsten Sportwagen-Rennen des Jahres düpierte er die Konkurrenz. Eine Legende war geboren. Und sie sollte nur zwei Jahre später als Serienfahrzeug auf die Straße kommen.
Fast 70 Jahre ununterbrochener Modellgeschichte später, wird ein neues Kapitel aufgeschlagen. Bei der Baureihe R 232 liegt die Entwicklung des SL erstmals in den Händen von Mercedes-AMG. In guten Händen, das ist offensichtlich, denn Jochen Hermann, Technischer Geschäftsführer bei Mercedes-AMG, beschreibt die Mission so: „Wir müssen ein Auto auf die Straße bringen, bei dem jeder sagt: Wow, an Icon is back – und es ist auch noch ein AMG.“
Doch was macht sie eigentlich aus, diese Ikone? Woran liegt es, dass die Faszination dafür noch immer ungebrochen ist? Vermutlich ist sie sogar größer denn je. Wenn Jochen Hermann mit dem Mercedes-Benz-Classic Experten Dennis Heck über den Mythos SL spricht, kann man die beiden jedenfalls kaum bremsen. Will man auch nicht.
Der Mercedes-Benz 300 SL ist eine Zeitmaschine. Eine, die auf dem schnellsten Weg zurück fährt in die Anfänge der Bundesrepublik. In eine Epoche, „in der die Leute sich schon nach normalen Autos umgedreht haben“, wie Jochen Hermann sagt. Normal war der 300 SL damals auf keinen Fall. „Die Straßen waren gerade mal wieder repariert, und dann kommt da plötzlich ein Auto ‚out of space‘.“ Hermann spricht das spektakuläre Äußere des 300 SL Flügeltürers an, der den Menschen damals wie ein Raumschiff vorgekommen sein muss. Doch nicht nur: „Der 300 SL war technisch in jeder Dimension so weit vor allem, was jahrelang danach noch kam“, sagt Hermann.
Dennis Heck sieht es genauso. „Zum Mythos SL gehören ganz klar die zahlreichen Innovationen, die er hervorgebracht hat“, erzählt der Mercedes-Benz Classic Experte. „Er war zum Beispiel der erste Serienwagen mit Benzineinspritzung“, so Heck. Eine Errungenschaft, die er für seine Motorsport-Siege allerdings nicht mal brauchte. Zu seinen überlegenen Siegen trat er noch – im Vergleich zur Konkurrenz untermotorisiert – mit Vergaser an, gut 170 PS leistete er. Doch das genügte, um der Konkurrenz davon zu fahren.
Ein wesentlicher Grund des Erfolgs: Der von Rudolf Uhlenhaut erdachte Gitterrohrrahmen. Heck begeistert er noch heute: „Man muss sich das vorstellen: ein unglaublich filigranes Konstrukt aus dünnen Rohren. Das ist äußerst verwindungssteif, unglaublich stark und dennoch extrem leicht.“ Was sich da unter der Karosserie aus Aluminium-Magnesium-Blech verbirgt, wiegt nur 50 Kilogramm. Die dünnen Rohre sind so miteinander verbunden, dass sie nur auf Druck und auf Zug beansprucht werden. Ein Meisterwerk der Ingenieurskunst.
Kein Wunder also, dass schnell Rufe nach einem Serienauto laut wurden. „Man war so kurz nach dem 2. Weltkrieg eigentlich mit anderen Themen beschäftigt als mit Motorsport. Aber der Sportgedanke hilft, auch wieder positive Emotionen zu wecken“, beschreibt Heck die damalige Gemütslage. Man habe sich wieder begeistern wollen. „Deutschland wurde 1954 Fußball-Weltmeister, im gleichen Jahr kam der Serien-Flügeltürer auf den Markt und Mercedes-Benz gewinnt die Formel-1-Weltmeisterschaft.“ Nach den großen Erfolgen des SL im Motorsport 1952 sei dann schnell der Gedanke aufgekommen: „Das Auto müssen wir kaufbar machen. Das müssen Kunden erleben dürfen.“ Sie durften, mussten allerdings etwas gelenkig sein. Denn der Gitterrohrrahmen wurde auch in die Serie übernommen. Leicht modifiziert erlaubte er ab 1954 zwar etwas größere Türausschnitte als beim ursprünglichen Rennwagen. Doch der breite Schweller blieb. Auch am Roadster, der 1957 folgte und den Erfolg des 300 SL noch verstärkte.
Es sind große Reifenspuren, die der neue SL „made by AMG“ füllen muss. Dabei ist es nicht das erste komplett von AMG entwickelte Auto, schließlich gab es schon den SLS und den darauf aufbauenden Mercedes-AMG GT. Doch Hermann schätzt Verantwortung und Herausforderung noch größer ein als bei einem Modell ohne Vorgänger. „Die Erwartungen an ein neues Auto sind immer groß. Wenn ein Stern drauf ist und noch die drei Buchstaben dazu kommen, sind sie riesig“, sagt der AMG-CTO. „Aber beim SL mussten wir die Ikone nicht nur in die Zukunft bringen, sondern auch in die Markenwelt von AMG überführen.“
Eine Herausforderung, der sich aus Sicht von Heck in gewisser Weise alle Entwickler einer neuen SL-Generation stellen mussten. Und das ging schon bei der berühmten „Pagode“ der Baureihe W 113 von 1963 los. „Die war tatsächlich leistungsärmer und langsamer als der Vorgänger“, so Heck. „Das muss man sich erstmal trauen.“ Dennoch würde rückblickend niemand den Platz der Pagode in der SL-Historie anzweifeln. „Niemand sagt, er ist langsamer und schwächer als der Vorgänger. Nein, er ist anders. Aber trotzdem ein echter SL“
So verkörpert die Pagode neben dem Geist des Ur-SL auch ein bisschen Lifestyle. Heck: „Damals hat man sich gefragt, wie schaffen wir es, diese Kraft und diese Sportlichkeit mit Eleganz, Luxus und Lifestyle zu kombinieren.“ Dem sportlichen Fahrvergnügen tat das keinen Abbruch. Aber: „Er war nicht mehr nur dieser reinrassige Sportwagen, den man auch fahren können muss.“ Zumal man damals zunehmend Wert auf den Schutz der Insassen legte. Die Baureihe W 113 war der erste Sportwagen mit Sicherheitskarosserie, größerer Knautschzone und einem Innenraum mit entschärften Kunststoffelementen.
Beachtliche Erfolge der Pagode bei der Spa-Sofia-Liège- und der Akropolis Rally zeigten, dass sie noch das Zeug zu sportlichen Höchstleistungen hatte. „Die Langstreckenrallye Spa-Sofia-Lüttich führte 6.500 Kilometer über größtenteils unbefestigte Straßen. Und die wurde mit einem seriennahen Fahrzeug gefahren“, erläutert Heck. „Das Fahrwerk wurde ein bisschen modifiziert und verstärkt, es wurden selbstverständlich andere Federn eingebaut, es wurden andere Reifen aufgezogen. Aber am Ende des Tages war es ein seriennaher SL. Das demonstriert, wie sportlich das Fahrzeug doch zu bewegen ist.“
Doch Mercedes-Benz hatte schon 1955 beschlossen, aus dem aktiven Motorsport auszusteigen. „Auf der Höhe des sportlichen Erfolgs hat man entschieden, sich fortan stärker auf die Pkw-Entwicklung und -Produktion zu fokussieren“, sagt Heck. Erst 1987 kehrte Mercedes wieder zurück in den offiziellen Werksmotorsport. Bis dahin unterstützte man zwar Privatfahrer, setzte aber keine offiziellen Werksteams ein. Rückblickend auch ein Glücksfall, wie Hermann anmerkt. „Das war der entscheidende Grund, warum zwei Ingenieure bei Mercedes entschieden haben: Wir gründen AMG.“
Die Erfolgsgeschichte, die Hans Werner Aufrecht und Erhard Melcher ab 1967 auf den Weg brachten, fing für den SL mit der Baureihe R 107 an. Diese zielte stärker auf den US-Markt ab als der Vorgänger und damit mehr auf Luxus, Komfort und Sicherheit. Für Heck bot er dennoch eine gute Basis für einen „echten AMG“. „Das war der erste SL mit Achtzylindermotor, ab 1971 mit 3,5 Litern Hubraum. Also ein kraftvoller, voluminöser Motor. Im Laufe der Entwicklung ging das sogar bis 5,6 Liter Hubraum. Ein Auto mit so einer starken Motorenbasis eignet sich natürlich für Optimierungen durch AMG.“ Hermann ergänzt: „Auch, wenn wir uns an vielen Stellen weiterentwickelt haben: Der Antrieb ist ja gerade bei AMG immer noch das Herzstück.“
Zur Baureihe 107 hat Hermann auch aus anderen Gründen ein besonderes Verhältnis: „Der 107er bedeutet mir mit am meisten“, sagt er. „Das war der SL meiner Jugend, der hat in vielen Fernsehserien mitgespielt, dann hatte er diese tollen Rücklichter – damals war das für mich der Inbegriff des SL.“
Es fällt ohnehin schwer, gegen den Erfolg des R 107 zu argumentieren, der in seiner Ausprägung als Mercedes-Benz 450 SLC AMG „Mampe“ durchaus Erfolge im Tourensport vorweisen konnte. Vor allem aber wurde der R 107 ab 1971 fast 18 Jahre ununterbrochen gebaut. Mit rund 250.000 Exemplaren ist die Baureihe noch immer die Meistverkaufte. Dennoch wurde es Zeit für einen Nachfolger.
Der kam ab 1989 in Form des von Bruno Sacco gezeichneten R 129. Er machte schon optisch klar, dass der SL einen riesigen Schritt in die Zukunft machte. Fahrwerk, Karosserie, Motoren – der SL R 129 wurde technisch in allen Bereichen auf ein neues Level gehoben. „Es gibt bei uns in den Archiven Designzeichnungen, die datieren auf Anfang der 80er-Jahre“, sagt Heck. „Das heißt, man war schon 10 Jahre vor Marktpräsentation gedanklich damit beschäftigt, für den 107er einen legitimen Nachfolger zu finden.“
An den Leistungsdaten wird der technische Sprung deutlich: War beim R 107 mit 240 PS im SL 500 das Ende der Fahnenstange erreicht, leistete der SL 600 schon 394 PS. Heck erinnert sich: „Ich war zwar noch bei meinem Vater im Kinderwagen als der SL damals auf der IAA 1989 präsentiert wurde. Aber er hat mein Jugendlichen-Dasein ein Stück weit geprägt.“ Wie Hermann hat auch Heck damals „die Autohefte verschlungen“. „Dann kam der 129 als Zwölfzylinder und hat einfach alles, was damals auf dem Markt war, in den Schatten gestellt.“ Zumindest, bis AMG sich dem R 129 angenommen hat. Und dem Zwölfzylinder. So wurde aus dem 6,0-Liter-V12 im SL 73 AMG ab 1999 ein 7,3-Liter-V12, die Leistung stieg auf sagenhafte 525 PS.
Mit dem Nachfolger R 230 verschwindet das 73er-Kürzel schon wieder. Die Bauzeit des R 129 war eben noch eine Zeit des Ausprobierens. Die bis heute gültigen Modellbezeichnungen 63 für den V8 und 65 für den V12 findet man seit der Modellpflege 2008 am Heck des SL. Bis zur auslaufenden Baureihe R 231 bleibt auch etwas Anderes, was seit jeher für Diskussionen sorgt: Das Stoffverdeck wird durch ein mechanisches, faltbares Hardtop ersetzt. Der SL wird zum „Blechdachcabrio“.
Trotzdem bleibt ein SL seit Generationen stets dem Komfort verpflichtet. „Ein Sportwagen muss nicht per se ein unkomfortables Auto sein. Ich sage immer: Sportlichkeit kommt über Präzision. Das spürt man beim Einlenken, daran, wie sich der Aufbau bewegt, daran, dass ich keine Millisekunde im Unklaren darüber gelassen werde, was das Auto tut. Das ist Rennsport, Genauigkeit, Zuverlässigkeit, dieses wiederholbare Verhalten. Und das ist nicht zu verwechseln mit einem unkomfortablen, harten Fahrwerk.“
In dieser Präzision liegt sie dann auch wieder, die glasklare Anknüpfung zum Urahnen 300 SL. Es hat einen Grund, dass mit das erste, was vom neuen SL in der Öffentlichkeit zu sehen war, der Rohbau war – nebst dem Gitterrohrrahmen des 300 SL Roadster. „Wir sind beim R 232 natürlich weit weg vom Gitterrohrrahmen“, wendet Hermann ein. „Aber dessen Leistung lag in der Steifigkeit. Zu einer Zeit, als man die Art von Präzision, die ich gerade beschrieben habe, gar nicht kannte.“
Beim neuen Mercedes-AMG SL (R 232) sorgt kein Gitterrohrrahmen mehr für maximale Steifigkeit bei minimalem Gewicht, sondern ein intelligenter Materialmix aus Aluminium, Stahl, Magnesium und Faserverbundwerkstoffen. Aluminium-Schubfelder am Unterboden, spezielle Streben und Guss-Aluminium an den sogenannten „Kraftknotenpunkten“ machen den Rohbau um 18 Prozent torsionssteifer als beim Vorgänger. Die Quersteifigkeit liegt sogar um 50 Prozent über der des Mercedes-AMG GT Roadsters und die Längssteifigkeit um 40 Prozent. Nur rund 270 Kilo wiegt der Rohbau.
„Die Anforderungen, die man damals mit dem Gitterrohrrahmen umgesetzt hat, die haben wir in die Neuzeit übertragen“, sagt Hermann. „Wir haben einen Roadster gebaut, in dem man sitzt und sagt: Wow! Das ist solide, das ist leichtfüßig und, es ist ein Roadster.“ Heck sieht hier ebenfalls die klare Verbindung zum Ur-SL: „Das zeigt den Spagat, den beide Autos, der Urahn und das neue Auto, beherrschen. Der SL wurde als Rennsportwagen entwickelt, er sollte aber auch auf der Landstraße Spaß machen und vielleicht ein bisschen zum Flanieren dienen.“
Man spürt, dass Hermann gerne noch mehr erzählen würde, über die Technik des neuen SL, doch kurz vor der Weltpremiere müssen die Fans sich noch etwas gedulden. Als Vorgeschmack mag dienen, was Hermann zur Entwicklung des neuen SL erzählt. Die sei mit der Entwicklung des Mercedes-Benz SLS AMG durchaus zu vergleichen. „Wir haben beim SLS mit einem weißen Blatt Papier angefangen und ganz viele Komponenten komplett neu gedacht. Vom Antrieb in Transaxle-Bauweise bis zum ikonischen Design mit den Flügeltüren. Die Mitarbeiter haben da unglaublich viel Engagement reingesteckt, ich weiß von ganz vielen Nachtschichten, die damals stattgefunden haben.“
Viel von diesem Pioniergeist hat Hermann beim neuen Mercedes-AMG SL wiedergefunden. „Wir reden ja über die Historie einer Ikone. Die Aufgabe war von der Emotionalität und von der Verantwortung vergleichbar mit damals, als wir zum ersten Mal einen komplett eigenen Sportwagen entwickelt haben. Wir haben den SL praktisch nochmal neu erfunden.“ Das Blatt Papier war wieder weiß, AMG musste auf keiner vorhandenen Struktur aufbauen. „Wir haben uns wieder überlegt, wie wir an die Sache rangehen, welches Achsprinzip setzen wir um, wie gestalten wir das Layout. Was soll vom Vorgänger im Geiste erhalten bleiben? Was zeichnet den SL aus?“
Die Antworten sind gegeben, die Entwicklung ist getan, die letzten hektischen Wochen und Monate sind vorbei. Schon bald wird der neue Mercedes-AMG SL der Öffentlichkeit präsentiert, Hermann findet schon jetzt gelegentlich Momente zur Reflektion. „Dann bekomme ich direkt Gänsehaut. Da steht ein Auto, das in den nächsten Jahren unsere Kunden begeistern und das irgendwann ganz sicher einen besonderen Platz im Museum finden wird. Früher sind wir hinter solchen Autos hergerannt und heute darf ich die entwickeln, das ist ein Kindheitstraum.“