Siege im Motorsport erringt man mit einem herausragenden Team. Und mit den besten Fahrern. Doch wie findet und fördert man die? Wie führt man sie an die Spitze? Gwen Lagrue, Driver Development Advisor des Mercedes-AMG Petronas Formula ONE Teams, verrät es.
Talent zeigt sich früh. Vielen, die es bis an die Spitze ihrer Disziplin schaffen, scheint es in die Wiege gelegt. Doch ohne Förderung und Fleiß bleibt Talent nur ein Versprechen. Der sprichwörtliche Rohdiamant, dem der perfekte Schliff zum Juwel fehlt. So gesehen ist Gwen Lagrue der Juwelier im Mercedes-AMG Petronas Formula ONE Team – denn der Franzose leitet das Nachwuchsprogramm für angehende Profi-Fahrer.
Er sichtet Talente, wählt sie aus, nimmt sie in seine Obhut und „schleift“ sie, bis sie in der Königsklasse des Motorsports glänzen. Alex Albon gehörte zu seinen Schützlingen, Esteban Ocon und George Russell haben unter seiner Anleitung den Sprung vom Nachwuchsprogramm des Mercedes-AMG Petronas Formula ONE Teams in die Formel 1 geschafft.
Es ist ein langer Weg bis in die Königsklasse, und er beginnt dort, wo die meisten Träume vom großen Motorsport beginnen: im Kartsport. „Wir wählen die Fahrer aus, wenn sie etwa 11 Jahre alt sind. Die fahren dann bereits auf internationalem Niveau“, sagt Gwen. Dass sie schnell sind, haben sie also bereits bewiesen. Gwen achtet auf andere Dinge: „Die Performance ist nur die Basis“, erklärt er. „Was mich an den jungen Talenten interessiert, ist die Art, wie sie Rennen fahren, ihre Konstanz. Aber das Wichtigste für uns als Team ist, dass sie schon so früh den richtigen Zugang zum Rennfahren haben und die richtige Einstellung, dass wir sie an die Spitze führen können.“
Dabei ist es wichtig, dass dieser Auswahlprozess früh passiert, sagt Gwen: „Wir müssen die Fahrer mit Potenzial identifizieren, wenn sie elf oder zwölf Jahre alt sind, weil sie in dem Alter alles Wissen aufsaugen wie ein Schwamm.“ Gwen und sein Team wissen genau, was sie von den Aspiranten erwarten, welche Fähigkeiten und Einstellungen sie für die Formel 1 benötigen. “Ein Fahrer, der schon 19 oder 20 Jahre alt ist, hat seine eigene Herangehensweise und seine eigenen Gewohnheiten entwickelt. Das macht es schwer. Ich möchte die Fahrer nicht ändern, sondern ihnen etwas beibringen.“
Wenn Gwen und seine Scouts an den Kartsport-Strecken dieser Welt stehen, halten sie daher nicht immer Ausschau nach den schnellsten Fahrern. „Das klingt vielleicht komisch, aber beim Karting gewinnt nicht immer der Beste“, sagt Gwen. Die Kandidaten müssen konstant vorne mitfahren, aber das ist nur der Grundstock. „Wir suchen Fahrer, die menschlich all das mitbringen, was einen Champion ausmacht: Einstellung, Reife, Demut und Dankbarkeit gegenüber dem Team. Das sind die Dinge, die einen Kandidaten besonders machen. Danach suchen wir.“
Gwen kennt die spannendsten Kandidaten meist bereits, wenn er zu einem Kart-Event anreist. Das können Leute sein, die ihm selbst schon aufgefallen sind, die Personen in seinem Umfeld aufgefallen sind oder die ihm empfohlen wurden. „Ich muss sichergehen, dass wir keine Talente übersehen.“ Dann kommt die Zeit der Beobachtung. An der Strecke natürlich, aber auch übergeordnet.
Etwa sechs Karting-Events besucht Gwen pro Jahr. Aktuell sind vier Kartfahrer im Team. Einer, Andrea Kimi Antonelli, wechselt gerade in die Formel 4. Und von da soll es – hoffentlich – weiter nach oben gehen.
Gwen weiß aus eigener Erfahrung wie schwer das ist. Er selbst hat Benzin im Blut und den Traum von der Rennfahrer-Karriere geträumt. Sein Vater war Amateur-Rennfahrer, der Weg zum leidenschaftlichen Formel-Eins-Fan war kurz. Schon als Junge saß Gwen bei den Rennen auf der Tribüne. Unvergessen: das legendäre Duell zwischen Gilles Villeneuve und René Arnoux beim französischen Grand Prix 1979 in Dijon. Arnoux beschrieb den Kampf um Platz zwei hinterher als „das beste Rennen der Welt.“
Gwens Weg führte bald hinter das Steuer eines Karts und danach in die Formel Ford, bevor er sich auf den Rallye-Sport konzentrierte. Irgendwann musste Gwen akzeptieren, dass Passion allein nicht reicht, um es an die Spitze zu schaffen. Doch Leidenschaft ist eine starke Triebfeder. Nach einer Zeit beim Militär und als Autohändler drückte er wieder die Schulbank. Er studierte Jura, Wirtschaftswissenschaften und Sport Management – um ab 2009 endlich in die Formel Eins einzusteigen. Für den damaligen Renault-Rennstall baute er das Fahrerentwicklungsprogramm mit auf. 2015 trat Toto Wolff, Chef des Mercedes-AMG Petronas Formula ONE Teams, an ihn heran. Seither leitet Gwen das dortige Nachwuchsprogramm.
„Ich glaube, unser Ansatz unterscheidet sich deutlich von anderen Nachwuchsprogrammen, denn wir wählen nur sehr wenige junge Fahrer aus. Das hat mit Loyalität zu tun“, erklärt Gwen die Herangehensweise. „Wir sehen uns nicht als Manager – ich mag den Ausdruck Manager nicht – sondern als Verantwortliche für die Karriere unserer Nachwuchsfahrer. Es geht um Engagement, Hingabe, Performance und Ergebnisse“, schildert er die Kernwerte seiner Aufgabe. „Es ist die Art und Weise, wie wir uns selbst immer wieder infrage stellen, um immer besser zu werden, die uns von anderen unterscheidet.“
Diese Werte und Ideale erleichtern es Gwen und seinem Team, junge Fahrer ins Mercedes-AMG Petronas Formula ONE Team zu holen. „Wenn wir auf die Jungs zugehen, sind sie beeindruckt von unserem Ansatz und hocherfreut, dass wir zu ihnen kommen.“ Sie ins Team zu holen, fällt leicht, doch da beginnt die Arbeit für Gwen erst: „Wenn wir einen Nachwuchsfahrer unter Vertrag nehmen, übernehmen wir eine Verantwortung für sein Leben und seine Karriere. Da lastet mehr Druck auf uns als auf ihm“, findet Gwen.
Klar, die Fahrer müssen Ergebnisse abliefern. Aber wir müssen sicherstellen, dass wir alles tun, um sie an die Spitze bringen.
Beim Mercedes-AMG Petronas Formula ONE Team Team weiß man: Jeder Einzelne ist nur so stark wie das Team. Die Fahrer stehen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, aber der Motorsport ist dennoch ganz klar ein Mannschaftssport: „Was ein Fahrer erreicht, ist die Arbeit von hunderten oder sogar tausenden von Leuten, die man nicht sieht.“ Ohne Mechaniker, ohne Fahrwerksingenieure, ohne die Boxencrew, ohne Datenanalysten, Catering-Personal oder all die Menschen, die an seiner Karriere mitwirken, kann ein Fahrer keine Ergebnisse erzielen. „Das ist etwas, das wir unseren jungen Fahrern beibringen müssen. Sie müssen verstehen, dass sie es alleine nicht schaffen.“
Ein Fahrer, der sich bereits auf der Rennstrecke beweist, ist George Russell. Russell kam 2017 ins Team. Es war das Jahr, in dem er Platz 3 in der Formel-3-Meisterschaft belegte. Ein Jahr später landete er in der GP3 auf Platz 1, 2018 gewann er die Formel-2-Meisterschaft. Ab 2019 fuhr Russell für Williams in der F1.
Seine ersten Punkte holte er 2020 bei seinem ersten Einsatz für das Mercedes-AMG Petronas Formula ONE Team – als Ersatzfahrer für Lewis Hamilton. Es war ein Rennen, das deutlich zeigte, warum die F1 ein Teamsport ist. Russell startete von Position zwei und führte das Feld einen Großteil des Rennens an. Aber einige Details liefen ungünstig für ihn. Trotzdem erreichte Russell seine ersten F1-Punkte und zeigte sein großes Potenzial. Von da an zeigte seine Formkurve bei Williams nach oben. Die Saison 2021 beendete er mit 16 WM-Punkten. Viel für ein Team, das insgesamt nur 23 Punkte erreichte.
In der kommenden Formel 1 Saison 2022 ist es nun so weit: Russell hat sich seinen Stammsitz im Mercedes-AMG Petronas Formula ONE Team erarbeitet. Er ersetzt Valtteri Bottas, der zu Alfa Romeo Racing wechselt. Es wird wohl eine Saison, in der Russell sich mehr beweisen muss als je zuvor. Immerhin fährt er mit demselben Material wie der siebenfache Weltmeister und Rekordhalter für Rennsiege, Pole Positions und Podiumsplätze: Lewis Hamilton.
Für Gwen ist das ein Erfolg, aber noch kein Grund zum Feiern. „Ich bin froh über Georges Fortschritte und über die Arbeit, die wir bis hierhin abgeliefert haben. Aber für mich ist das erst der Anfang“, sagt er. „Wirklich stolz sind wir erst, wenn George den Job macht, den wir von ihm erwarten. Wenn er hoffentlich mal Weltmeister wird oder zumindest ein Fahrer, auf den das Team sich verlassen kann, und dem er dabei hilft, Weltmeister zu bleiben oder zu werden.“
Das ist kein kleiner Anspruch. Doch die meisten Fahrer kommen mit einer sehr professionellen Einstellung in die F1. „Motorsport ist in den letzten Jahren schon beim Karting enorm professionell geworden. Wenn junge Fahrer in der Formel 1 starten, sind sie es längst gewohnt, mit Technikern und Analysten zu arbeiten“, sagt Gwen. Vor 20 Jahren kamen Fahrer im Alter von 27 bis 29 Jahren in die Formel Eins, inzwischen bereits mit 18 oder 19 Jahren. „Was sie an sportlicher Professionalität mitbringen, fehlt ihnen dafür unter Umständen an Lebenserfahrung. Es ist wichtig, dass wir das berücksichtigen.“
Motorsport befindet sich stetig im Wandel, genau wie andere Bereiche des Lebens. Doch es gibt mindestens einen Bereich, da hängt er hinterher. Frauen gibt und gab es noch immer sehr wenige im Motorsport, und speziell in der Formel Eins. Ein Defizit, das auch Gwen sieht. „Wir wären extrem stolz, wenn unser Nachwuchsfahrerprogramm die nächste Frau in die Formel Eins bringen würde.“ Doch das sei keine Frage des Talents. „Für jedes Mädchen, das mit dem Kartsport anfängt, fangen gleichzeitig 100 Jungs an. Von diesen 100 hat vielleicht einer das Zeug für die Formel Eins“, erklärt Gwen. „Die Chancen für das eine Mädchen stehen schon rein mathematisch schlecht.“
Um die Chancen zu verbessern, muss er also früh ansetzen. „Wir müssen am Zugang für Mädchen zum Motorsport arbeiten“, sagt Gwen. „Wir tun das bereits. Aber man muss realistisch sein. Es wird bestimmt noch ein paar Jahre dauern, bis wir die nächste Frau in der Formel 1 sehen.“ Und er sagt: „Hoffentlich wird das bei unserem Team sein.“ Die Arbeit für den Talentscout geht also nicht aus.